Frauen-Kultur-Archiv

Gerda Kaltwasser Textforum
Andere Kulturen

Absage an Vorurteile

Wenn der Ausflugsjet, von Abu Simbel kommend, in der Morgenfrische bei Assuan landet, wird Touristen manchmal ein Anblick zuteil, den die Pharaonen während viertausendjähriger Herrschaft in Oberägypten nicht kannten, der noch vor einer Generation undenkbar war: Weiße Wolken machen der jungen Sonne das Himmelsblau streitig. Die Wolken, die manchmal sogar etwas Niederschlag bringen, entstehen über dem Nasser-See, dem See, der durch den neuen Assuan-Staudamm entstanden ist. Noch immer sind die Ägypter stolz auf ihren Staudamm. Die Bewunderung der Touristen für dieses Werk ist ebenso berechtigt wie für die kaum mit Laiensinnen erfaßbare Leistung, mit der der Tempel von Abu Simbel mit seinen riesigen Steinfiguren versetzt wurde, ehe sich der See mit Nilwasser füllte.

Aber die Diskussion über den Nutzen des Staudammes entbrennt immer heftiger. Der Nutzen, den er der seit Jahrtausenden fruchtbaren, aber auch allen Wetterabweichungen ausgelieferten Uferregion des Nils bringen sollte, steht gegen die Zerstörung eines Gleichgewichtes auf biologischem Gebiet, das von den Anbaumethoden der Fellachen in den letzten sechstausend Jahren kaum ins Wanken gebracht worden ist. Die Methoden haben sich nicht geändert, mit dem Holzpflug wird gepflügt, mit der Hand gesät, mit Wasserrädern und der Archimedischen Schraube Wasser auf die Felder geleitet. Mit der Sichel wird geerntet. Dahinter droht das Wunderwerk des Staudamms. Er läßt das Wasser stetig fließen. So stetig, daß der Grundwasserspiegel ständig ansteigt und Tempelbauten wie den von Medinet Habu in Gefahr bringt. In spätestens zehn Jahren wird der Tempel, der 3000 Jahre überdauert hat, zerstört sein. Eine Rettung würde Milliarden Ägyptische Pfund kosten. Omm Seti allerdings, eine Engländerin von 82 Jahren, die sich so in Geschichte und Religion des Pharaonenreiches hineingelebt hat, daß sie als Staatsrentnerin neben dem Tempel wohnen darf, weiß billigere Rettungswege. „Man müßte einen künstlichen See zwischen Nil und Tempel anlegen, um das Grundwasser aufzufangen und abzuleiten. Aber das wollen die Leute in den Dörfern nicht. Sie fürchten, ihre Kinder fallen hinein und ertrinken. Dabei haben sie so viele Kinder.“ Den Einwand, die vielen Kinder seien die Lebensversicherung des armen Mannes, weil von den vielen viele sterben, läßt sie nicht gelten. „Hier stirbt kein Kind mehr, dafür sorgen kostenlose Schutzimpfungen und die medizinische Versorgung. Meine Nachbarn haben zehn, zwölf Kinder, und die werden alle groß.“

Touristen, die – meist in Gruppen – durch Ägypten reisen, haben überall Gelegenheit, den Aufprall von Entwicklungen der letzten zwanzig, der letzten zehn Jahre auf Jahrtausende alte Strukturen kennenzulernen. Vielen ist das gleichgültig. Sie wollen Sonne, Erlebnis, alte Kultur in faßbarer Dosierung und mit Komfort. „Man sollte die Einheimischen aussperren, wenn die Touristen kommen“, sagten Mutter und Tochter auf der Bananeninsel im Nil bei Luxor. Die beiden deutschen Touristinnen fühlten sich, wie viele andere Touristen, von der „Bettelei“ der Plantagenarbeiter und ihrer Kinder so belästigt, daß sie keinen anderen Ausweg wußten. Eine siebzigjährige Deutsche las den beiden in biblischem Sinn die Leviten: „Wir sind hier die Eindringlinge.“ – „Ja, aber wir bringen das Geld. Wir, die westlichen Touristen.“ Wir waren es wohl auch, die dem kleinen Mädchen im Nubierdorf als erste das Zicklein in den Arm gedrückt haben, um die niedliche Idylle zu fotografieren. Jetzt kommen die Kinder mit den Zicklein an die Touristen-Busse und sagen „Foto, Foto“. Und halten schmutzige Kinderhände auf, während die Fliegen in den Augenwimpern sitzen. Aber gegen die Augenkrankheit gibt es Medikamente und das Betteln ist wirklich sehr lästig. Das müßten diese Leute doch merken...

Die nach westlicher Vorstellung ungewohnten Verhaltensweisen der Ägypter verleiten viele Touristen zu Fehlschlüssen und Fehlverhalten. Es ergeht ihnen wie den ersten Spanientouristen vor 25 Jahren in den engen Gassen Barcelonas - sie wagten sich nur mit stoßbereit geballter Faust in der Tasche voran. Der Deutsche, durch lange Isolation von der übrigen Welt nur noch an seinesgleichen gewöhnt, vermochte „fremdländische“ Typen nicht mehr einzuschätzen.

So ergeht es vielen, selbst weitgereisten deutschen Touristen in Ägypten. Die Freundlichkeit der Menschen dort läßt sie unsicher werden, ihr ständiger Drang zum Feilschen bewirkt Unwillen bis zur Bösartigkeit. Viel zu hohe Erstforderungen für minderwertige Ware bringt vielen das Wort „Betrüger“ auf die Lippen. Das absolute Chaos des Kraftfahrzeugverkehrs in der 12-Millionen-Stadt Kairo jagt dem ampelgesteuerten Westler ebenso einen Schauer über den Rücken wie die Menschentrauben, die an den roten Linienbussen hängen, die mit zerbrochenen Fenstern und oftmals nur noch an ein paar Drähten hängenden Motoren durch die Stadt jagen. Dazu die Menschenpulks auf den Vorortzügen, auf den Dächern der Überland-Taxis. Auf dem Dach ist es billiger.

Da stellt sich Aufatmen ein, wenn eine Kamelkarawane, beladen mit frisch geernteten Zuckerrohrbündeln, über die Straße zieht oder der Fellache auf eilig trippelndem Eselchen gegen Abend vom Feld heimkehrt.

Aber das Offensichtliche täuscht. Das Verkehrschaos in Kairo löst sich immer wieder auf, meist sogar ohne schwere Unfälle. In den engen schlecht gepflasterten Straßen geht auch der touristische Einzelkämpfer, ob Mann oder Frau, sicherer als in mancher mitteleuropäischen Großstadt. Eigentumsdelikte oder gar solche mit Körperverletzung gegenüber Fremden sind selten. Viel häufiger ist Höflichkeit und herzlich einladendes Lächeln. Auch in den ärmsten Gegenden, auch dort , wo magere Ziegen, zerrupftes Federvieh zwischen den armseligen Häusern am Stadtrand umher rennen.

Je entfernter vom Tourismus, desto weniger Aufdringlichkeit, desto mehr freundliches Entgegenkommen. Versuchen Sie es mal mit einem mühsam erlernten ägyptischen Grußwort in einer dieser schmutzstarrenden Gassen – eine schönere Steigerung des Selbstwertgefühls durch aufmunternde Zurufe ist kaum vorstellbar. Meist werden Sie gleich eingeladen, zu Tee oder Kaffee. Nehmen Sie an. An Postkartenständern sind überall Ansichtskarten mit dem Bildnis von Staatspräsident Sadat zu sehen. Sie brauchen nicht zu kaufen. Aber sagen Sie, daß Sie Sadat für „a good man“ halten. Der Verkäufer wird Ihr Freund sein. Aber versuchen Sie nicht, einem Mann in den Arm zu fallen, der bettelnde Kinder mit Stockhieben von tankenden Touristenbussen fernhält. Man würde Sie nicht verstehen.

Begriffe wie Schmutz und Elend erhalten in Ägypten andere Dimensionen. Der Kampf gegen Sand, Lehm und Abfall stellt sich als Unternehmen dar, gegen das die Säuberung des Augiasstalles durch Herkules wie ein Kindergartenspiel erscheint. Aber auf jedem Balkon auch in den ärmsten Straßen weht ständig frisch gewaschene Haus- und Körperwäsche. Die Mütter kämpfen den endlosen Kampf immer neu, genau wie die müden alten Esel der Kairoer Müllabfuht.

Auch das Elend hat andere Gesichter. Es muß niemand hungern. Obdachlose, die auf Straßen und Plätzen schlafen, gibt es kaum.

Reisen in Ägypten setzt nicht so sehr Toleranz als vielmehr Einfühlungsvermögen und Absage an Vorurteile voraus. Reisen in Ägypten bringt menschlichen Gewinn, denn es läßt uns ein Volk kennenlernen, daß unter der Last der Schwierigkeiten seinen Stolz nicht verloren hat. Nicht jeder Ägypter heißt Hassan oder Mohammed, sowenig wie jeder Deutsche Fritz heißt. Aber jeder Ägypter fühlt in sich noch das Blut der Pharaonen, deren wunderbare Tempel und Gräber, deren Fertigkeit im Ausnutzen der Gaben der Natur und hochentwickelten menschlichen Geistes wir heute noch staunend erleben, im Ägyptischen Museum, das eine klägliche Rumpelkammer und ein Zauberberg märchenhaften Ausmaßes ist; zwischen den Pyramiden von Gizeh bei Sonnenuntergang, in den Tempeln von Luxor und im Tal der Könige bei sengender Mittagshitze, bei Sonnenaufgang im Sand vor den Felsengöttern von Abu Simbel. Es kann nicht überraschen, wenn auch dieser Pharaonenvergangenheit, der mancherlei Fremdherrschaft, dann die große Umwälzung durch den Islam und dann wieder Fremdherrschaft folgte, - wenn aus den Erfahrungen von 6000 Jahren Geschichte eine neue Religionsphilosophie erwächst, eine von der „Dreieinigkeit“ aus pharaonischem Jenseitsglauben, hebräisch-christlicher Hinwendung zum Jenseits und mohammedanischem Prophetentum. Und daß diese versöhnende Philosophie durch den jungen Ägyptologen Wahit aus Kairo nahegebracht wird. Er kennt übrigens auch das alte Geheimzeichen gegen Schlangen und Skorpione. Es wirkt, selbst wenn man es nur in den Sand malt. Wahit hat es als junger Archäologiestudent selbst ausprobiert.

Von unserem Redaktionsmitglied Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Touristik, 26.02.1980

Tourismus in China: Mit Maos Mütze auf die Mauer

China – das bedeutet für uns Menschenmassen und strenge Geburtenregelung. Wir denken an Tempel, an tropische Wälder. Der eine schüttelt sich beim Gedanken an gebratene Hunde, der andere beim Gedanken an hundertjährige Eier. China, das erinnert auch an Katastrophenmeldungen. Noch in diesem Frühjahr war von Dürrekatastrophe in der einen, schrecklicher Überschwemmung in einer anderen Provinz zu lesen. China ist eine Welt für sich, fremd, liebenswürdig, lebenslustig und von furchteinflößender Energie. Diese Herausforderung übersteigt jene durch den Nachbarn Japan bei weitem.

Nichts ist gegenwärtig so schnell überholt wie ein Reiseführer über die Volksrepublik China. Wenn das Buch in den Handel kommt, stimmten nur noch die historischen Daten, die kunstgeschichtlichen Kapitel. Handel und Wandel, das Alltagsleben der ehemals blauen Ameisen entwickeln sich atemberaubend geschwind und nicht geradlinig, sondern in Form artistischer Purzelbäume. Mit der Folge, daß es in China heute schon Probleme gibt, die wir mit unserem Gesellschaftssystem identifizieren.

In der Hauptstadt Beijing wachsen die Wohnblocks gleich hinter den alten Flachbauten, die eng ineinandergeschachtelt um kleine Höfe gebaut sind, empor. Ist ein Hochhaus fertig, werden die alten Häuschen abgerissen. Gegen den Protest ihrer Bewohner, die die Entwurzelung fürchten. Es gibt nicht nur Mietwohnungen, auch Wohneigentum. Doch vor allem die älteren Leute fühlen sich heimatlos und verloren in den neuen Waben.

„Das Alte“ stammt inzwischen nicht mehr nur aus der Zeit vor der Revolution, alt ist auch schon die Zeit Maos. Ungeniert wird die Mao-Mütze mit dem roten Stern und anderen Abzeichen als Souvenir verkauft und nicht nur von West-Touristen getragen. Das junge chinesische Liebespaar, das einen freien Tag in der Schlange von vielen hundert einheimischen und fremden Touristen auf der Großen Mauer verbringt, setzt selbstverständlich so eine Mütze kess auf die Ohren. Mao hat viel getan für das chinesische Volk, Mao ist tot. Sie aber wollen leben; wenn möglich, täglich ein wenig besser.

Fanggitter

Es scheint möglich zu sein. Kühlschrank und Farbfernseher sind die meistbegehrten Konsumziele. Private Kraftwagen gibt es kaum. Die Chinesen sind noch immer ein Volk auf Fahrrädern, ohne Beleuchtung, aber mit phonstarken Klingeln, die zu einem begehrten Mitbringsel der Touristen wurden. In Beijing haben alle Lastwagen seitlich zwischen den Rädern ein Fanggitter, um die Zahl der tödlichen Unfälle mit Radfahrern – monatlich etwa 15 – zu verringern.

In den Touristenzentren – neben Beijing, Shanghai, Nanjing ist das vor allem Xi’An wegen der weltberühmten Ausgrabungen der Terrakotta-Armee – schießen die Luxushotels nach amerikanischem Muster und mit amerikanischem Kapital aus dem Boden. „Joint venture“ ist das Zauberwort. Die Amerikaner scheinen auf die chinesische Zukunft zu setzen. Mit Grund. In diesem Jahr hat der Touristenstrom die Qualität einer Sturmflut erreicht.

Sie drohte zeitweise die noch junge Tourismusorganisation im Land hinwegzuspülen. Vor allem in den bisher wenig erschlossenen Westgebieten Chinas fehlt es an Hotels, aber auch an Dolmetschern, vor allem deutschsprachigen. Unbekümmert vertrauen die meist noch jungen, eben den Universitäten entwachsenen Fremdenführer darauf, daß „doch alle Deutschen englisch sprechen“. Das Ergebnis ist unwilliges Murren in den Bussen mit wissenshungrigen Touristen, denen wieder einmal die Erklärung einer Buddha-Statue in den Dunhuang-Grotten entgeht. In Peking in den kaiserlichen Palästen und Gärten oder in XiÀn zwischen den tönernen Soldaten des Kaisers Quin Shi Huang Di ist das anders. Dort gibt es soviel zu sehen und (auch auf Deutsch) zu hören, daß am Anfang einer Reise „auf der alten Seidenstraße“ von Chinas Ostprovinzen in den Westen anderes Murren laut wird: „Wir wollen auch die Leute heute kennen lernen.“

Dazu ist dann reichlich Gelegenheit, vor allem bei Tag- und Nachtfahrten in Zügen, in denen die Reisenden meist regelrecht in Lagen gestapelt unterwegs sind. Sie liegen unter und auf den Bänken, schlafen stehend, geduldige Babies auf dem Arm, in Gängen und Toiletten, lassen ohne Zorn, oft mit einem Lächeln, das Drängeln der glücklicheren Reisenden über sich ergehen, die einen Platz im Schlaf- und Speisewagen haben, sich von dem einen zum anderen Aufenthaltsort aber meist einen Weg durch bis zu 20 Waggons bahnen müssen. Wer diesen Weg einmal hinter sich hat, unternimmt ihn nicht ein zweites Mal, verzichtet lieber auf die nächste Mahlzeit.

Verkehrsprobleme

Die Bahnstrecke quer durchs Land ist eingleisig, nur an den größeren Stationen gibt es ein Gleissystem. Schwere alte Dampfloks ziehen den fast kilometerlangen Zug durch Wüsten und gewaltige Gebirge, bei größeren Steigungen werden zwei Loks vorgespannt. Hin und wieder bekommt der Zug einen Schluckauf: Dann fliegen Koffer aus den Netzen, stürzen die großen Thermoskannen mit immer glühheißem Wasser für den Tee in den Gang.

Das Eisenbahnnetz in dem riesigen Land ist kaum entwickelt. Entgleist ein Zug, ist die Strecke oft tagelang blockiert. Die Straßen werden außerhalb der Ortschaften zu nur mühsam befahrbaren Pisten. In den Wüstengebieten sind sie wegen der starken Stürme im eisigen Winter unbefahrbar, selbst schwere Lastwagen würden umgeweht. Der Liniendienst der staatlichen Fluggesellschaft CAAC wird auf weite Strecken zum Bedarfsluftverkehr. Ist die Maschine von Peking nach Urumqui, der Hauptstadt der autonomen Provinz Sinkiang, nicht genügend gebucht, fällt der Flug aus, die Reisenden sitzen im fernen Urumqui oder noch ferneren Kashgar fest, müssen auf Bahn oder Omnibus umdirigiert werden. Das Improvisationstalent der Chinesen wird immer wieder gefordert. Für die Touristen, aber auch die Geschäftsreisenden, die in immer größerer Zahl unterwegs sind, bedeutet das Abenteuer und Ungewißheit, vor allem aber Zeitverlust.

Doch wieso Verlust? Es gibt soviel zu erleben. Die Westprovinzen unterscheiden sich stark von den Gebieten, die von den buddhistischen Han-Chinesen bewohnt werden. Statt der Tempel bestimmen moslemische Moscheen das Bild der Ortschaften. Die Lebensart hier ist geruhsamer, erinnert an die Türkei, an arabische Länder. Auf dem Speisezettel steht Lammfleisch. Reis tritt in den Hintergrund gegenüber den Fladenbroten. Die Märkte sind bunt und reich bestückt mit Gemüse, Obst, Fleisch und köstlichen Süßwasserfischen. Auf Esels- und Maultierkarren werden Waren und Menschen transportiert. Mit Begeisterung liefern sich die Kutscher, oft noch Kinder, mit ihren Touristenfrachten auf zweirädrigen Karren Wettrennen auf Straßen voller Schlaglöcher und Wasserrinnen. Kleine Geschenke – der einfache Kugelschreiber ist freilich kein beeindruckendes Angebot mehr – werden von der ganzen Familie bewundert. Feilschen um den Preis ist selbstverständlich, aber die Anfangsforderungen sind noch nicht so phantastisch wie in Touristengegenden Ägyptens oder Nordafrikas. Wie lange noch? Die Touristen, die die niedrigen Preise mit üppigen Trinkgeldern ausgleichen, sorgen schon dafür, daß auch der kleine Kashi bald merkt, wohin der Hase läuft.

In den schon erschlosseneren Gebieten, etwa am Anfang der Großen Mauer, ist die „Touristen-Anmache“ bereits Alltagsgeschäft. Hier ist’s auch erheblich teurer als in den westlichen Provinzen. Auch das übrigens ein Ergebnis der freieren Wirtschaft. Unter Mao galten Einheitspreise, war allerdings die Versorgung einheitlich karg, soeben zum Leben ausreichend.

Neue Kaufhäuser

Heute werden fast täglich neue Kaufhäuser eröffnet, nicht nur Freundschaftsläden, wo der Tourist mit dem eigens für ihn geschaffenen Geld Seide und Lackarbeiten, Jadeschnitzereien und Schmuck oder Vasen aus Cloisonnée kaufen kann. Auf den Märkten und im Kaufhaus wird mit Renminbi, der einheimischen Währung, bezahlt. Es gibt einen grauen Markt, auf dem der Touristen-Yüan günstig gegen Renminbi getauscht werden kann. Wer sich auskennt, kann auf diese Weise außerordentlich billig leben. Junge und nicht mehr so junge Rucksacktouristen wissen dies zu schätzen, genau wie die preiswerten Massenunterkünfte in großen, mit Matratzen ausgelegten Schlafsälen.

Wer nicht mit dem Rucksack reist, braucht stabiles Gepäck und zumindest eine Krawatte – Damen vergleichbar Formelles. Denn in Xi’An lockt neuerdings eine große China-Schau mit Bankett: „The Tang Dynasty“.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Reise-Journal, 5. November 1988

Masuren – noch ein Stück der alten Welt

Das Reiseland Polen ist zu entdecken, jetzt, da die ärgsten Versorgungsschwierigkeiten beseitigt sind. Im Sommer locken Ermland, Masuren mit Seen und Wäldern. Der Zwangsumtausch wurde abgeschafft. Wenn auch die Preise ständig steigen, für den Touristen aus dem Westen sind Lebensmittel, öffentliche Verkehrsmittel und Kfz-Treibstoff noch immer unvorstellbar billig.

Auf dem Bahnhof von Preußisch-Eylau, dem heutigen Ilawa, standen unsere Freunde mit frisch gepflückten Feldblumensträußen. Der Hausherr begrüßte die Damen mit dem in Polen auch heute noch selbstverständlichen Handkuß. Wir hatten eine angenehme Reise hinter uns. Der Ferien-Autoreisezug, den TUI in Hannover einsetzt, erspart dem westlichen Autotouristen in Richtung Polen die noch immer aussichtslose Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit in der DDR oder im polnischen Grenzgebiet. Der Zug setzt sich gegen 21 Uhr in Bewegung, jedes Abteil enthält vier Liegemöglichkeiten, Frühstück ist im Preis enthalten.

Durch die Grenzformalitäten nachts wird der Reisende kaum geweckt. Freundliche Grenzbeamte werfen einen kurzen Blick auf Visum und Reisepaß. Der Zugbegleiter hat schon vorher die Kraftfahrzeug-Papiere kassiert, falls der Zoll eines der Autos inspizieren will. Es passiert so gut wie nie. Der Zugbegleiter gibt auch wichtige Ratschläge. Er hilft sogar, wenn jemand mitten in der Nacht entdeckt, daß er ohne Visum unterwegs ist. Die Sonne strahlt auf die von den Rungenwagen rollenden westdeutschen Autos und auf einen liebevoll restaurierten Bahnhof aus der Jahrhundertwende.

Kaffee nach Gramm

Hier werden wir in 14 Tagen unsere letzten Sloty in Hefeteilchen, polnische und albanische Zigaretten, in glühheißen Kaffee (es gibt ihn in zwei Qualitätsstufen, das Kaffeemehl wird nach Gramm abgewogen) und einen letzten Teller Bigosch, Sauerkraut, umsetzen. Jetzt ist keine Zeit. Außerdem haben unsere Gastgeber in Kühltaschen und Thermoskannen alles dabei für ein Picknick. Die beiden, vor zehn Jahren aus politischen Gründen zu Frührentnern gemacht, müssen sparen. Draußen essen und trinken ist zu teuer. Für sie. Wir hingegen halten unsere tausende Slotyscheine in Händen und wissen nicht, wie wir sie loswerden sollen. Daß das Leben so billig sein kann…

Mitreisende, soweit sie ohne Auto unterwegs waren, hatten schon ab Grenze an jeder Station den Zug verlassen. Ältere Leute waren es meist, oft in Begleitung der Kinder. Für die einen war es Heimkehr, für die anderen erste Begegnung mit einer anderen Welt. Niemand gab lautstark Ansprüche zum besten. Viele aber schwärmten vom Land ihrer Jugend. Eine Schwärmerei, die drei Düsseldorfer auf der Fahrt ins Ermland und nach Masuren schon vom Zug aus teilten.

Allenstein, das polnische Olstyn, ist die größte Stadt in Ermland und Masuren, eine Industriestadt mit den fürchterlichen Miethauskomplexen, wie sie die Stadtränder hüben wie drüben, wenn auch häßlich in unterschiedlichen Graden, markieren. Mrogowo, das frühere Sensburg, liegt landschaftlich reizvoll, hier gibt es ein Vier-Sterne-Hotel am Wasser, mit allen Sportmöglichkeiten. Die Übernachtung im Doppelzimmer mit Frühstück kostet fast 200 Mark. Busausflüge in den nahen Wallfahrtsort Heiligelinde, ins fernere Danzig, aber auch nach Masuren, wo es am ursprünglichsten ist, nach Augustow oder Suwalki zum Beispiel, werden angeboten.

Wir wohnen in einem Knusperhäuschen mitten in einem Wald, der nur an einer Stelle einmal endet und in weite, sorgfältig bestellte Felder übergeht. Zum Schwimmen haben wir in unmittelbarer Nachbarschaft die Wahl zwischen der Kleinen und der Großen Babant, zwei Seen, in denen sich die Wipfel von Eichen, Birken, Fichten spiegeln, aber auch die gestreckten Silhouetten fliegender Störche, die auf der Suche nach der nächsten Heumahd sind. Wo gemäht wird, finden sich reichlich Mäuse. Reh- und Rotwild kommt allabendlich in die Nähe des Knusperhäuschens. Nachbarskinder bieten frischen Fisch aus den Seen an, Aale, Karauschen, Schleien, sicher ein wenig am Rand der Legalität der Natur abgeluchst.

Diese Natur ist ein Kapital, eines, das sich durch Brachliegen verzinst. Viele Polen, die nachdenklichen vor allem, wissen das. Sie möchten vorsichtig, nicht überstürzt vorgehen. Möchten die touristische Zersiedelung verhindern. Herrliche Campingplätze in Wäldern und an Seen gibt es bereits. Walderdbeeren und Pfifferlinge gedeihen üppig ringsum. Bienenzucht und Honigproduktion haben einen hohen Standard. Niemand muß mehr hungern, am wenigsten die Touristen.

Das Straßennetz ist ausgezeichnet. Ein paar weitere Hotels sind wünschenswert. Aber nur an ganz wenigen Stellen sollen Feriendörfer entstehen. Die westdeutsche Tourismusindustrie hat längst bei den Gemeindeverwaltungen angeklopft, hat goldene Berge versprochen. Bisher weitgehend vergebens. Wie lange noch in einem Staat, dessen Finanzkraft erschöpft ist?

Die Polen sind Meister im Ergreifen von Gelegenheiten. Das ist die einzige Überlebensstrategie für den Einzelnen. Wenn es keinen Kitt gibt, werden die Scheiben eben mit gut ausgekautem Kaugummi aus den Paketen westlicher Freunde befestigt. Aber solche Improvisationskunst hilft der Volkswirtschaft nicht auf die Beine. Jeder kauft nur das Allernötigste, weil das Nötige zu teuer ist. Deshalb ist der Versuch unserer beiden 60jährigen Freunde, es beruflich noch einmal in der freien Wirtschaft zu versuchen, ein Drahtseilsakt ohne Balancierstange.

Not in den Städten

Die große Hoffnung der Polen ist die Bundesrepublik. Enttäuscht haben sie sich von ihren traditionellen Freunden Frankreich und England abgewandt, von denen sie sich in Notzeiten betrogen und übervorteilt fühlten. Die DDR, das ehemalig sozialistische Bruderland, ist ihr Freund auch nicht, in Polen wird das sehr klar gesehen. Werden wir, können wir im Westen die Hoffnungen erfüllen?

25 Prozent Preissteigerung in einem halben Jahr bei knapp 100 Mark Rente. Ist damit zu leben? In den Städten werden die Touristen immer wieder um ein paar Mark angesprochen, in deutscher Sprache von alten Leuten, die mit dieser Rente leben müssen. Auf dem Land ernten die meisten in Feld und Garten, was sie brauchen. Dort klappt auch die übrige Versorgung besser, etwa mit T-Shirts aus China und Rotwein aus Spanien. Weil Stadt und Land nach dem Gießkannenprinzip versorgt werden, auf dem Land aber keiner so etwas kauft.

Außer Deutsch wird von der älteren Generation Französisch, von der jüngeren oft Englisch gesprochen. Ohne Vergleiche zu ziehen, ohne das Aufrechnen des nicht Aufrechenbaren werden in Gesprächen Erinnerungen wach. Erinnerungen an böse Erfahrungen mit Nazis wie mit sowjetischen Unterdrückern. Und es gibt nicht wenige Polen, die „könnten auf einem deutschen Paß bestehen“. Aber sie wollen Polen bleiben in der Hoffnung, daß ihr Land alle Schwierigkeiten überwindet.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Reise-Journal , 4. August 1990

Meditieren, blumige Harmonie genießen

Zur Euroga 2002: Ausstellung Japanische Blumenkunst im Hetjens-Museum

Es begann in den fünfziger Jahren als Aufbruch in eine fremde Kultur. Die Achse Berlin-Rom-Tokio zur Hitlerzeit hatte da nicht viel gebracht. Mitte der Fünfziger aber wurde im Kunstmuseum am Ehrenhof eine japanische Tee-Zeremonie zelebriert, gab es im Hetjens-Museum, damals noch Abteilung des Kunstmuseums, eine erste Begegnung mit Ikebana, der Kunst des Pflanzensteckens in kunst- oder sonst wie anspruchsvollen Gefäßen. Origami, die Kunst des Papierfaltens, bezauberte, papierene Koi-Karpfen hingen wie Mobiles in den Fenstern, und japanische Schriftzeichen auf Schachbrettmuster hingen als Grafik an den Wänden.

Dann kam der Niedergang. Origami wanderte in Kindergärten und Grundschulen ab, Ikebana in die Volkshochschulen, die Teezeremonie wurde als fischiger, grüner Teeaufguss missverstanden, Papierkarpfen waren fürs Kinderzimmer und die Schriftzeichen als Grafik-Ersatz wurden saurer Kitsch genannt.

Dann kam vor 30 Jahren die Engländerin Georgie Davidson nach Düsseldorf und eröffnete hier einen Zweig ihrer Internationalen Ikebana-Schule. Seitdem ist Ikebana im Rheinland mehr als häusliche Pflanzendekoration mit fernöstlichem Touch. Zum 30-jährigen Bestehen des Düsseldorfer Ikebana-Zweigs wurde gestern im Hetjens-Museum eine Jubiläumsausstellung eröffnet, in der sich Ikebana als wahrhafte Kunst präsentiert, Kunst nicht denkbar ohne Meditation, und zufällig auch ein Beitrag zur Euroga 2002.

Georgie Davidson, 83 Jahre alt, Großmutter, mit gepflegtem weißen Haar die typische Lady, dirigierte gestern Mittag noch eine Schar aufgeregt hin und her flatternder englischer und deutscher Schülerinnen; fotografierende Ehemänner und ein einziger männlicher Schüler wirkten ziemlich exotisch. Dabei war bis vor 100 Jahren Ikebana, damals schon mit 500-jähriger Tradition, in Japan reine Männersache. Um so mehr spricht es für die Ikebana-Meisterin Davidson, dass die Ausstellung von der Japan-Foundation unterstützt wird. Japaner/-innen findet man allerdings in der Schule nicht.

Das Hetjens-Museum, Deutsches Keramikmuseum, ist der Ikebana-Kunst seit Jahrzehnten verbunden und das, obwohl die Meisterwerke der Keramik für die Dienerinnen der Alt-Äste, Jung-Artischocken, Lilien, Rosen, Strelizien und Bananenblätter nicht mehr als Container sind. Im Lauf der Jahrhunderte haben sich Schulen und Stile herausgebildet. Da ist zum Beispiel Morimono. Hauptbestandteil sind Früchte, dazu wenige Blüten, noch lieber Blätter; diese Schaustücke können in Glas- oder Keramik-Arbeiten angeordnet werden, auf Lackschalen, sogar auf Papier.

Vieles wirkt auf uns, die wir in der abendländischen Kultur- und Begriffswelt aufgewachsen sind, symbolisch, manches auch nahe am Deco-Pop, Begriffe, die zum Verständnis so wenig taugen, wie wir jemals den Gehalt von „Meditation“ voll ermessen können. Da bleibt uns ein wunderbarer Ausweg: sich hineinfallen lassen in die Harmonie von Ikebana. Auge und Nase, Herz und Hirn werden glücklich.

Gerda Kaltwasser
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 4. Mai 2002