Frauen-Kultur-Archiv

Yvonne Friedrichs Textforum
Kunstkritik 1981-1983

Naive Reize

Dubuffet-Ausstellung in der Kölner Kunsthalle

Aus dem Jahre 1935 stammen jene in Öl gemalten „Stadt- und Landmarionetten“ und die Folge der „Métro“-Gouachen, mit denen die große jetzt in der Kölner Kunsthalle gezeigte Retrospektive-Ausstellung Jean Dubuffets einsetzt, des nunmehr achtzigjährigen Erfinders der „Art brut“: der rohen, ursprünglichen Kunst, die sich an den unreflektierten künstlerischen Äußerungen von Kindern und Geisteskranken, von Naiven und Primitiven eher orientiert als an den gewohnten Wertvorstellungen.

Die von der Berliner Akademie der Künste zusammengestellte Ausstellung mit 360 Werken Dubuffets, aus über 70 öffentlichen und privaten Sammlungen, in ununterbrochener Folge von 1943 bis 1980, ist nach einer Retrospektive dieses Künstlers vor zwanzig Jahren in Hannover die erste dieser Größenordnung im deutschsprachigen Raum. Damals wurden nur 90 Arbeiten gezeigt.

Geht man vorbei an den chronologisch sich folgenden Werkgruppen, hat man von Anfang bis Ende den Eindruck, daß hier einer das Theater oder vielleicht noch eher den Zirkus dieser Welt in seinen komischen, beängstigenden und poetischen Aspekten zugleich ironisch-karikierend und mit liebevollem Einverständnis registrierte und dabei zeit seines Lebens das große Staunen nicht verlernte. Immer ist bei ihm das Eigenartige zugleich Ausdruck von etwas untergründig Gemeinsamen. Dubuffet war 43 Jahre alt, als er in fröhlichen Farben perspektivelos seine Métro-Gouachen malte: Menschen, eng zusammengedrängt, frontal, irgendwie verbunden durch eine allen gemeinsame Abwesenheit und Anonymität. Er ritzt, kratzt nach Art der Sgraffiti in Pasten aus Asphalt, Teer und Bleiweiß, Zement, Gips, Lack, Leim, Kalk, Sand, Kohlenstaub, Kieselsteinen etc. die Menschen von Paris mit ausgesprochenem Blick für die Komik und Tragikkomik deformierter Silhouetten. Man spürt: er mag sie alle, diese schlichten Zeitgenossen. Mit dem Röntgenblick eines verstehend Liebenden bringt er gleich einem Magier in den hintergründigen Porträts seiner Freunde – Jean Paulhan, Michel Tapié „als Sonne“, Antonin Artaud, seines Galeristen René Drouin – hinter dem Individuellen jenen inneren Kontakt zu einer surrealen Welt ins Bild.

Und dann, nach den Sahara-Aufenthalten Dubuffets, diese wie legendäre Erscheinungen aus den Bildgründen auftauchenden „Clowns der Wüste“. Sie haben alle teil an mysteriösen archaischen Seinsräumen, die den meisten von uns längst verschlossen sind. Oder die in ihrer Poesie unwiderstehlichen „Grotesken Landschaften“, deren eigentlich ganz in die Erde eingebetteten Strichmännchen stillvergnügt, ja selig die Freuden des Landlebens wie ein ungewohntes und ganz vergessenes Wunder erleben. Zu erdigen Landschaften scheinen auch breit und unförmig hingelagerte Frauenkörper zu werden. Gezeichnete Porträtköpfe wirken wie geologische Exkursionen der Zeichenfeder. In verzückten Strukturen, inspiriert von der Landschaft um St. Paul de Vence, wo er sich ein Atelier baut, verherrlicht der Künstler Himmel und Erde, collagiert Männchen aus Schmetterlingsflügeln, huldigt dem „Wald“, dem „Gartenboden“, der „blühenden Erde“ mit berückenden Collagen aus gesammelten Pflanzenteilen. Eine irreale Ausstrahlung haben auch die in einer Serie zusammengefaßten „Kühe auf der Weide“. Nach den Assemblagen entstehen die freistehenden „Statuen“, die doch so fragil und unbeständig sind wie jener so tief betroffen machende „Blinde“ aus Silberpapier.

„Ich vertraue den wilden und ungekünstelten Reizen gegenüber jeder Schminke und allen Friseuren“, sagte Dubuffet. Neben den Strukturen der Natur hat er immer wieder diejenigen der menschlichen Psyche und der Gesellschaft in dynamischen Rhythmen von Linien als phantastisches abstraktes Phänomen aus dem Gegenständlichen herausgelöst – in „Paris Circus“ etwa oder den seit 1962 entstehenden Bildern, Skulpturen, Zeichnungen, Räume des „L’Hourloupe“-Zyklus. Nach dem langen Gebrauch von erdigen Farben kehrt Dubuffet hier wieder zur Buntheit, wenn auch auf wenige Grundtöne beschränkt, zurück. In ein Puzzlespiel unendlicher Linien eingebettet, das auch die Plastiken verwirrend überzieht und sicher von den Comic strips beeinflußt ist, erscheint hier das menschliche Tun und Treiben in seiner Unbeständigkeit fragwürdig und illusionistisch.

Als Groteske stellt der Künstler es auf eine imaginäre Bühne in seinem berühmten „Coucou-Bazar“ – aus bemalten Plastikelementen zusammengesetzten menschlichen Figuren, Tieren, Wagen, Mischwesen teils auf Rädern, teils von Menschen getragen, die sich als phantastisches Ensemble zu einer von Dubuffet selbst komponierten Musik bewegten – erstmals 1973 im Guggenheim-Museum New York. Auch diese „Praticables“, die in der von Dubuffet gestifteten Fondation in Périgny-sur-Verres aufbewahrt werden, sind in Köln, wenn auch unbewegt, zu sehen. Dazu Großphotos seiner skulpturalen Architekturen, wie der einzigartigen „Closerie und Villa Falbala“ in Périgny: einem reich gegliederten, strukturell bemalten, eher einem Felsgebirge oder einer Eishöhle gleichenden, nach außen völlig geschlossenen Refugium als Gegenentwurf zur rationalen Wohnmaschine unserer Zeit: ein Ort zum Träumen und zur Besinnung.

In: Rheinische Post. Feuilleton, 19. März 1981.

Maler-Dialog mit dem Kreuze

Arnulf Rainers „Kruzifikationen“ im Suermondt-Ludwig-Museum Aachen

In der Karnevalszeit schwarze Gegenzeichen: Arnulf Rainers „Kruzifikationen“ im Suermondt-Ludwig-Museum Aachen. Die 55 Arbeiten, entstanden zwischen 1951 und 1980, stehen hier in der Nachbarschaft – wenn auch wohlweislich nicht in unmittelbarer Konfrontation – mit den dort bewahrten mittelalterlichen Kruzifixen und Kreuzigungsdarstellungen, als Ausdruck dafür, daß da auch ein Zeitgenosse von heute über die Jahrzehnte hinweg um die Auseinandersetzung mit dem Kreuz nicht herumkam.

„All diese Bildwerke erheben nicht den Anspruch, eine spezifische Bildnerei für sakrale Räume zu sein. Sie stammen aus sehr persönlichen Wurzeln. Anlaß war eine subjektive Betroffenheit“, schreibt Rainer im Katalogvorwort. „Kreuz und Nacht“ hat er es betitelt. So heißt auch seine 1961 erschienene Publikation, nachdem er sich in den fünfziger Jahren mit der Mystik, der Theologie und Kunstgeschichte des Kreuzes beschäftigt hatte. „Ich war mir über vieles im Unklaren, stehe selbst in Nacht, Finsternis und Nebel“, bekennt Rainer.

Er ist ein Abkömmling jener Tachisten und abstrakten Expressionisten der fünfziger Jahre, die in ihre „automatischen“, vom Verstand unkontrollierten Pinselgesten ihr Unbewußtes projizierten, immer in bohrender Suche nach dem eigenen Ich, die doch keinen Grund im einmal aufgerissenen Bodenlosen findet. Bei Rainer führt dies oft zu wahren Exzessen der Monomanie.

Alle Varianten seiner „Übermalungen“, seiner „Bodyworks“ und „Face Farces“, seiner „Fuß- und Fingermalereien“ oder „Untergrundarchitekturen“ beschreiben solche dialogischen Prozesse zwischen Selbstverlust und Selbstfindung. Sie sind Versuche, den permanenten Zerfall aufzuhalten, sind verwegene Drahtseilakte über dem Abgrund. Neben geradezu mönchischer Verinnerlichung ist dabei aber auch das Moment gestikulierender Zurschaustellung im Spiel.

Zwischen diesen beiden Polen sind auch die „Kruzifikationen“ angesiedelt, diese Identifikationen Rainers mit dem Kreuz wie auch mit dem Gekreuzigten.

Sofort am beeindruckendsten, weil jeder Theatralik fern, sind die in den fünfziger und sechziger Jahren entstandenen schlichten, stillen, auf alles Figürliche verzichtenden Holzkreuze. Rainer hat sie in unterschidlichen Formen und Proportionen aus einfachen Brettern verschiedener Breite und Länge in horizontalen oder vertikalen Rhythmen stufenartig zusammengesetzt, hat sie mit schwarzer oder nachtblauer Farbe befleckt, diese wie einen Strom finsterer Trauer darüber rinnen lassen oder sie ganz wie unter düsteren Schleiern des Unsagbaren versinken lassen.

Nur ein wenig rohes Holz, ein wenig blutrote Lebensfarbe oder lichtes Himmelblau bleiben zuweilen sichtbar, eine Ahnung auch manchmal von körperlicher Schattenhaftigkeit, wie bei einem „Zugedeckten Christus“ von 1968. Manche sind ganz urig primitiv und dörflich-volkstümlich, etwa ein „Kreuz aus Transportkistenholz“ (1967/68), manche von getragenem, ernstem Pathos, wie das „Große Vertikalkreuz“ von 1968.

Mit Stoff- und Ölfarbe auf Baumwolle und Leinwand ist ein großes „Weinkruzifix“ (1957/78) gemalt, in dem eine angedeutete schwarze Figur vor rot vertropfenden Rinnsalen und Gittern mit dem Kreuz verschmilzt. Solche Konzentration auf das Wesentliche, solches Ergriffensein des Malers strahlen auch einige kleinformatige Zeichnungen in schwarzer Tusche oder Mischtechnik und Radierungen aus, etwa die „Kreuzübermalung“ von 1955, ein „Verdecktes Kreuztabernakel“ (Mischtechnik / Radierung) von 1961 oder ein „Verhüllter Christus (1972), bei dem Strichgeflechte gleich einem angedeuteten Dornenkranz ein von Schwarz ganz ausgelöschtes Gesicht umrahmen. Auf mehreren Zeichnungen der siebziger Jahre erscheinen hinter dem Kreuzzeichen – das sich einmal, umgekehrt, in ein Schwert verwandelt oder auch zum zuckenden, schmerzhaften Blitz wird – der photographierte Kopf oder die Figur Reiners selbst.

Am Anfang seiner später sehr dramatisch und wild ausfahrenden, auch großformatigen und farbig expressiven „Kruzifikationen“ stehen einige schwarze Ölkreidezeichnungen über wenig Farbe von 1951, in denen das Kreuzerlebnis seinen abstrakten Ausdruck findet in schmerzhaft von einem zentralen Punkt in den Raum ausstrahlenden Strichgesten. Nur wenige der späteren, oft eher zur Groteske ausartenden und auf Effekt zielenden Übermalungen von photographierten und reproduzierten Christusköpfen oder Kreuzigungen von 1979 (zum Teil auf Aluplatten) erreichen die Glaubwürdigkeit und Betroffenheit der frühen Arbeiten. Sie gleichen oft mehr Dali-Haften Spiegelfechtereien. Im Katalog (20 Mark) sind alle Exponate abgebildet.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 25. Januar 1982.

Dämon im Reisfeld

Japanische Photographie in der CCD-Galerie

„Japanische Photographie“ von sechs zeitgenössischen Künstlern – diese Ausstellung wird gewiß auch manchen nicht professionell Interessierten in die CCD-Galerie (Hüttenstraße 47) locken. Daß Japan, der rasante Aufsteiger im Weltmarkt der Photoindustrie, auch künstlerisch manch Eigenes zu bieten hat, wird selbst in einer so begrenzten Ausstellung deutlich. Gegenüber den auch hier erkennbaren Übernahmen aus dem Westen ist es gerade das Bodenständige, der alten Tradition Entwachsene, was besonders beeindruckt.

Am reinsten bewahrt wird es – bei gleichzeitiger Angleichung an moderne, konstruktiv-abstrakte Strukturen und puristische Vereinfachung – von Takeji Iwaniya (geb. 1920), einem der Klassiker der japanischen Photographie, von dem es auch zahlreiche Buchveröffentlichungen gibt. Im Ausschnitt eines Tempel-Innenhofs mit Holzsäule und auf den Boden geworfene Gitterschatten, in der Strenge, strukturellen Feinheit und Präzision eines geschnitzten Dachrandes, eines verfugten Wanddetails ist typisch Japanisches bildhaft erfaßt.

Dinge werden zum abstrakten Zeichen, zum Symbol einer von Disziplin und Sensibilität bestimmten Geisteshaltung in Aufnahmen von Mattengefechten, einem Reisstrohbesen, von Kimono, Fächer und Eßstäbchen.

Auch in den Beauty-Photos-Farbaufnahmen japanischer Cover Girls des auch bei uns bekannten, durch viele Preise ausgezeichneten Mode- und Werbephotographen Hideki Fujii ist bei allem „Styling“ doch ganz konzentriert japanisches Wesen eingefangen. Die zarten Mädchen, oft im Kimono, mit den weißgepuderten, wie unter Masken des Geheimnisses verborgenen, fernöstlichen Mona-Lisa-Gesichtern, strahlen jene kultivierte Beseeltheit, gemischt mit einem Hauch von Melancholie, aus, die man in der kalten Sachlichkeit europäischer Mode- und Werbephotos vergeblich sucht.

In gefährliche Nähe des Süßlichen gerät allerdings Fernöstliches zuweilen in Shinya Fujiwaras farbig und stimmungsmäßig mit dem Morbiden spielenden „Traumkleidern, Traumakrobaten“: Aufnahmen zu seinem 1978 bei Parco erschienenen Buch „Yumet suzure“ zeigen photographische Poesien über selbstentworfene Kimonos, die sich zuweilen über halb entblößten Mädchenkörpern in Fäden auflösen und zerfasern.

Eikoh Hosoe, der sich seit über 20 Jahren mit der künstlerischen Photographie beschäftigt, interpretiert in seiner 1970 als Buch erschienenen Photo-Serie „Kamaitachi – eine extravagante Tragikomödie“ eine alte japanische Geschichte und verbindet sie mit Erinnerungen an seine eigene Kindheit, „als er die Geheimnisse des Lebens auf dem Lande entdeckte“. Auch heute spuken dort noch abergläubische Vorstellungen. Hier ist es der Dämon Kamaitachi, der einen vereinsamten Menschen zum Wahnsinn treibt. Manches von diesem Hintersinn, den der westliche Betrachter nur ahnen kann, wird da zwischen Realität – Reisfeldern, Bauern, Händlern, Tempel – und verborgenen Spannungen eingefangen.

Um die psychische Problematik von Homosexuellen geht es in der 1971 erschienenen Folge „Ordeal by Roses“, in der Hosue europäische Bildsymbole aus der Renaissance, etwa Botticellis „Geburt der Venus“, und des Barock effektvoll aufnimmt und im Labor übereinander kopiert. Die Photos sind dem Dichter Yukio Meshima gewidmet, der 1970 Selbstmord beging.

Die schon Anfang der sechziger Jahre entstandene, doch erst 1970 als Buch edierte Photoserie „Embrace“, raffinierte, einem perfekten ästhetischen Formalismus huldigende Kompositionen von Körperdetails, sind Beiträge zum Thema Sex, die in Japan einen Sturm der Entrüstung auslösten.

Ganz anders Shoji Ueda (geb. 1913), der älteste hier vertretene Photokünstler. Er ist zugleich Maler. Vor allem in seiner schon zwischen 1930 und 1940 geschaffenen Schwarz-Weiß-Serie „Sanddünen“ vermeint man jene Bezüge zwischen Figur und Raum wiederzuerkennen, wie sie für die Malerei des Magischen Realismus der zwanziger Jahre in Europa charakteristisch sind. Vereinzelt hat Ueda die Personen in diesen stillen Bildern inmitten von Sanddünen arrangiert – den Maler, Geiger, Spaziergänger, das spielende Kind, das kleine Mädchen neben der Blume: eine besinnliche Szenerie.

In den erst unlängst entstandenen Farbphotos „Brillant Scenes“, die mit Weichzeichnner nach ähnlichen Prinzipien komponiert sind, ist dieser überzeugende Eindruck eher verwässert.

In: Rheinische Post. Feuilleton, 18. März 1982

Deutsche Symbole

Jörg Immendorff in der Düsseldorfer Kunsthalle

Noch nie ist die Düsseldorfer Kunsthalle so total zum Bild-Raum-Panorama geworden wie jetzt in Jörg Immendorffs bisher größter deutscher Ausstellung, die ausschließlich seiner letzten, seit 1977 erarbeiteten Werkfolge „Café Deutschland/Adlerhälfte“ gewidmet ist. 19 großformatige Bilder im Format 282 x 400 cm, von denen die letzten fünf 1982 geschaffen wurden. Begleitet wird die Serie von Zeichnungen und Ölstudien sowie bemalten Plastiken in Lindenholz, darunter einige, in denen der in Düsseldorf lebende Künstler seine große Skulptur für die Kasseler „documenta“ – eine bronzene Version des Brandenburger Tors – vorbereitete. Sie ist letztlich der Kulminationspunkt von „Café Deutschland“, einem erregenden Zeitkommentar in Bildern über das deutsch-deutsche Verhältnis.

Diese Ausstellung ist ein Paukenschlag. Die lebhafte Resonanz, die sie im vollen Haus bei einem sichtlich überraschten, teils begeisterten, teils kritisch betroffenen Publikum fand, zeigte, daß da etwas angerührt wurde, auf das man wohl lange gewartet hatte. Nun, da sie da sind, fragt man sich angesichts der Bilder: Wie war es möglich, daß dieses gravierende, uns alle betreffende Zeitthema erst jetzt in der deutschen Kunst aufgegriffen wurde? Natürlich ist es in Einzelarbeiten immer wieder einmal behandelt worden. Doch erst jetzt scheint die Zeit wirklich dafür gekommen zu sein.

Was an den Bildern schon auf den ersten Blick fasziniert, ist die emotionale Kraft, die sie trägt und erfüllt, die auf den Beobachter überspringt und ihn fesselt, noch bevor er begreift, was hier im einzelnen dargestellt wird. Es ist diese Intensität der Hingabe, die mühelos riesige Bildformate und komplizierte, verschlüsselte Kompositionen mit dem Schwung der Empfindung und des spontanen Pinselstrichs zu Organismen und Räumen zusammenschmilzt.

Alles bleibt da überschaubar in den Details, ist greifbar real, zugleich malerisch und plastisch. Und doch ist es reine Vision, in der tatsächlich Erlebtes – persönlich und zeitgeschichtlich-politisch Relevantes – sich mischt mit Fiktiven oder sich wandelt in Bildsymbole und Gleichnisse. Das aber macht diese Bilder – und auch die Plastiken – so spannend, daß man sich von ihnen einfange lässt, begierig ist, sie zu lesen und zu entschlüsseln, um ihnen auf den Grund zu kommen.

Keine platte politische Agitation also, wie man sie von früheren Arbeiten Immendorffs (etwa in der Münsteraner Ausstellung von 1973) kannte, und von der man sich überfahren fühlte. Hier ist es gelungen, sehr komplexen, auch politisch wesentlich offenerer gewordenen Aussagen eine künstlerische Dimension zu geben. Und man sollte auch nicht von „schlechter Malerei“ sprechen (auch wenn einige kleinformatige Ölstudien zum Teil unterschiedlich in der Qualität sind): Ähnliches hat man schon den Expressionisten vorgeworfen. Der Anstoß zu dieser Folge und zugleich zu einem Wandel in der Konzeption seines Werks gab der italienische Maler Renato Guttuso, der 1976 auf der Bienale in Venedig Immendorffs Ausstellungsnachbar war, insbesondere Guttusos kurz danach kennengelerntes „Café Greco“. Darin wird dieser legendäre römische Künstlertreffpunkt zum Schauplatz imaginärer Situationen, die Künstler und Kunst betreffen.

Entscheidend für die Konzeption des „Café Deutschland“ war dann ein Treffen mit dem Maler A. R. Penck in Ost-Berlin. Die Freundschaft mit dem DDR-Künstler, der später in die Bundesrepublik übersiedelte, wurde ihm zum Symbol für die Probleme des deutsch-deutschen Verhältnisses, für die Teilung Deutschlands und ihre ersehnte Überwindung.

Immendorff, 1945 in Bleckede an der Elbe geboren, war mit dieser Spaltung von frühester Kindheit konfrontiert. An der Düsseldorfer Kunstakademie, wo er zuerst in der Bühnenbildklasse von Teo Otto, dann bei Beuys studierte, wuchs er in die Studenten-Protestbewegung der sechziger Jahre hinein. „Café Deutschland“ brachte dem bisherigen Hauptschullehrer, dem im Kunstmuseum Basel (1979), in der Kunsthalle Bern (1980) und zuletzt im Steldelijk Van Abbemuseum Eindhoven (1981) Einzelausstellungen gewidmet wurden, nun den entscheidenden Durchbruch.

„Café Deutschland“ ist der symbolische Aktionsraum, der zum Spannungsfeld der konfrontierten „Systeme“ diesseits und jenseits der Mauer und der in ihnen lebenden Menschen wird. Es ist eine fortlaufende Geschichte in Bildern, in die auch einzelne, politische Tagesereignisse chronologisch verflochten sind, die aber wiederum nur das Typische lebendig machen. Andererseits aber entrückt eine sehr persönliche Symbolsprache das Geschehen dem trivialen Wirklichkeitsabklatsch. Der Charakter dieser Bilder ist nicht illustrativ, sondern vehement erlebnishaft, schließt immer auch Wunsch und Hoffnung der Überwindung des Gespaltenen ein, vor allem durch die häufige Anwesenheit des durch Mauer und System getrennten Freundespaares Immendorff und Penck im Bild.

Das beginnt schon in der 1977 entstandenen ersten Szene „Grenze“, in der die beiden Freunde neben der Passkontrolle an einem durch die Mauer halbierten Ping-Pong-Tisch stehen (er existierte wirklich). Im Hintergrund vor der Fahne Leibesvisitation durch einen Vopo. Überdimensional neben dem als Hoffnungsvision winzigen Brandenburger Tor ein Mensch, der die Spitzhacke gegen die Mauer schwingt. In einer andere Komposition steckt Immendorff Penck, der visionär vor dem Tor erscheint, die Hand durch die Mauer entgegen. Zwei Totempfähle – mit eingeschnürten Menschen über der symbolischen „Systemzwinge“ (einem Schlagzeugbecken) auf der einen, einem Wachturm auf der anderen Seite – markieren die Grenzen der beiden deutschen Staaten.

Während uns in einem Bild von 1978 George Brecht von seinem Geburtstagstisch im „Café“ die brennende Kerze zur „Erleuchtung“ der Menschen in beiden Teilen Deutschlands zuwirft, tritt in den späteren Café-Szenen eine zunehmende Vereisung des Klimas, der Bilder ein. Der weiße Schneestern, auf den Blutstropfen fallen, auf dem die Säule der „Quadriga“ mit stürzenden schwarz-rot-goldenen Pferden wankt neben im Schnee steckenden Schlagstöcken und der kanonenbestückten „Systemzwinge“, wandelt sich in den „Schwarzen Stern“, auf dem alles zusammenstürzt. Übrig bleibt die von einem „Sammler“-Fuchs weggetragene Eisscholle, auf der nur noch Reflexe der „Café-Deutschland“-Vision erscheinen, bewacht von einem Grenzpfahl-Adler. Tabula rasa. „Was stellen wir rein?“, fragt Immendorff in der Skizze zu diesem End-Bild.

In: Rheinische Post. Feuilleton/ Wissenschaft und Bildung, 1. April 1982

Dramen des Innern

Ölbilder von Cesar Klein in der Galerie Bläser

Wieder einmal stellt die Galerie Norbert Blaeser (Bilker Straße 5) einen Künstler vor, dessen überwiegend in der Zeit zwischen den Weltkriegen entstandenes Werk in der Abgeschiedenheit seines Ateliers nahezu dem Vergessen anheimgefallen ist: den 1876 in Hamburg geborenen, 1954 in Pansdorf bei Lübeck gestorbenen Maler Cesar Klein. Anregung zu dieser Retrospektive mit 20 Ölgemälden gab das im expressionistischen Stil gemalte Bild „Ruhe auf der Flucht“ (1918), das der Galerie-Inhaber im schleswig-holsteinischen Landesmuseum Schloß Gottorf entdeckte und das als Leihgabe auch in der jetzigen Verkaufsausstellung zu sehen ist.

Es entstand unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin, als Cesar Klein dort zu den Mitbegründern der November-Gruppe gehörte. Der Künstler, der im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts an der Hamburger Kunstgewerbeschule, dann an den Kunstakademien in Düsseldorf und Berlin studiert hatte, war als freischaffender Maler 1903 aus Leipzig nach Berlin zurückgekehrt. Dort stellte er in der Sezession aus, war auch 1912 an der Kölner Sonderbund-Ausstellung beteiligt und gehörte 1914 zum Vorstand der Kölner Werkbund-Ausstellung.

1919 wurde Cesar Klein als Lehrer an die Berliner Akademie berufen und hatte in den folgenden Jahren unter anderem Einzelausstellungen in der Kestnergesellschaft Hannover und bei Gurlitt in Berlin. 1933 gehörte Klein zu den ersten, die die NSDAP vom Lehramt beurlaubte. Später zog er sich nach Pansdorf bei Lübeck zurück. Trotz seiner Nachkriegsausstellungen in den Kunsthallen von Hamburg, Kiel und anderen Großstädten sind Name und Werk von Cesar Klein noch wenig im Bewußtsein der Kunstfreunde präsent – unterlagen deshalb aber auch nicht kaum dem Verschleiß im Kunstbetrieb.

Die großformatige „Ruhe auf der Flucht“ in einer romantischen Gebirgs- und Flußlandschaft, deren Farben im letzten Tagesschein der Sonne rot und orange aufleuchten, während die Mondsichel über einem schon bläulich verschatteten Bergmassiv, über dem Zelt, dem davor sitzenden Josef, dem grasenden Esel, der im Zentrum des Bildes auf einem Hügel sitzenden zarten Madonna mit Kind aufgeht, ist bei aller Farbexpressivität eher still und verinnerlicht.

Solche introvertierte Empfindungsintensität, dabei nun eher subtil und klangvoll nuancierte, Seelisches reflektierende Farben, kennzeichnen auch die Bilder der zwanziger Jahre, mit ihren klar gegliederten und gegeneinander abgegrenzten, oft collagenhaft geschichteten Farbflächen mit kubistischem Einschlag. Die typisierend wiedergegebenen Figuren orientieren sich – im Stil der zwanziger Jahre – am klassischen Schönheitsideal.

Wir werden in diesen Gemälden Zeugen von Szenen, die mit innerer Dramatik aufgeladen sind. Sie scheinen aus dem Leben gegriffen und wirken doch inszeniert, als handele es sich um Theatergeschehen mit tragischem Hintergrund. Darauf deuten auch der in der Hand gehaltene Fächer, der unheimliche schwarze Schatten hinter einer „Frau mit Hündchen“ (1929) oder die volkstümlich-bäuerliche, wohl balkanesische Tracht der „Zwei Frauen mit Brief“ (1928): Weich fließende Linien, der Ausdruck von verhaltenem Schmerz und stillem Mitgefühl scheinen sie zu verbinden.

In den dreißiger Jahren hat sich der in Ungnade gefallene Künstler auf mythisch-symbolische Figurendarstellungen und Szenen zurückgezogen, die oft wie große beschwörende Zeichen reglos im Raum stehen, nicht selten vor kulissenartigen Prospekten oder Rahmen. Wieder wird man an Bühnenauftritte erinnert, die nun in eine fast kosmische Weite projiziert sind, auch an silhouettenhafte oder in Holz geschnitzte, farbig ornamentierte und strukturierte Figurinen.

Bezüge zum Kubismus, zur Pittura Metafisica, zu Henry Moore, auch zu den Zeichnungen von Archipenko und zu Picasso sind erkennbar in Bildern wie „Versuchung“ (1933), „Maternità“ (1945), „Botschaft der Taube“ (1947), „Eros“ (1947), „Lemuren“ (1949) oder „Sibylle“ (1953). Üppig barocke tänzerische Theatralik, Gestalten der Commedia dell’arte begegnen uns in dem schwungvollen „Tanz“ von 1951.

Man kann in diesen Gemälden die vielfältige künstlerische Tätigkeit Cesar Kleins auch auf den Gebieten von Bühnenbild, Wandmalerei, Glasfenster, Mosaik, Intarsien ahnen. Er schmückte viele öffentliche und private, profane und sakrale Gebäude und Räume aus. In diesen mit einer Ausnahme figürlichen Bildern verdichtet sich sehr stark der Geist des ersten Nachkriegs-Jahrzehnts mit seinem Erkunden unbekannter Seelengründe, seinem Hang zum Mythischen. Aber auch die Rückbindung an die frühen zwanziger Jahre wird in eigenwilliger Weise deutlich.

In: Rheinische Post. Stadtpost / Düsseldorfer Feuilleton, 19. März 1983.

Räume und Farben

Graubner-Schau im Düsseldorfer Kunstpalast

Man erlebt die Verwandlung einer nüchternen Halle in einen beseelten Raum. Gotthard Graubner setzte sich mit diesem Raum, seinen kalkweißen Wänden, seiner erdrückenden und zugleich alles verflüchtigenden Höhe und Weite auseinander, rang mit ihm „wie mit einer starken Persönlichkeit“, denn er sollte sich durch die Bilder „artikulieren“. Graubner hat seinen Widerstand bezwungen, seine Weite herabgestimmt, geradezu zusammengezogen um die Bilder. Sehr tief gehängt, im rhythmischen Wechsel von Gruppierungen, Formatgrößen, Zwischenräumen, Farbkontrasten vermitteln sie den Eindruck von Farbverwandlungen, Nähe zum Menschen, vom Glück der Begegnung. Es gelang, die Bilder in den Raum, den Raum in die Bilder zu integrieren. Umraum verliert sich im Farbraum, wird Wesensraum.

Wird beredte Stille, wortloser Dialog mit dem, der gekommen ist, sich auf Gotthard Graubners Meditationen in Farben einzustimmen, die der großen Halle, dem Kunstpalast im Düsseldorfer Ehrenhof, eine neue Seele einhauchen. Sie atmet in Farben die zugleich Raum, Stoff und Geist sind – oder Spur, die von einem zum anderen den Weg weist. „Nicht der Gongschlag ist das Entscheidende, sondern der Nachhall.“

Immer ist es das Dazwischen, das in diesen Farbflüssen, Farbräumen, imaginären Farbkörpern und –schichtungen, den sich tief ins schrundig Stoffliche eingrabenden, abstrakten Farblandschaften, artikuliert wird: die Spannung, das Vibrato, die Schwingungen, die den Ton, den Klang, die Bewegung und Modulation, die Intensität und Dichte, die Helligkeit und Dunkelheit, das leichte und Schwere, Warme und Kalte des Farbwesens bestimmen. Es ist schon erregend – visuell und imaginär den organischen Verschmelzungsprozeß der lasierenden Farben in den Bildern nachzuvollziehen, die sich an den Fließrändern oft schichtweise einzeln ausweisen, um dann zu einem Farbraumorganismus von wunderbarer Transparenz in immer neuen überraschenden Mischungen zueinander zu fließen, sich zu verdichten und wieder voneinander zu lösen.

Abgehoben von abbildhafter Bedeutung oder literarischen Inhalten, sind Graubners Farborganismen Gleichnisse von Schöpfungsvorgängen: ein Spiel sich harmonisierender Energien. Sie sind so auch Spiegel der Kräfte und ausstrahlenden Impulse der Natur und deren Entsprechung im menschlichen Wesen – nicht als rationale Analyse, sondern wie ein Atmen mit der Natur. Schon in frühen Zeichnungen aus den fünfziger Jahren hat Graubner an dem Motiv von Bäumen vor allem interessiert: Was bringt den Baum zum Wachsen?

Nicht als Stadt-, sondern als Landkind bezeichnet sich der 1930 in Erlbach (Vogtland) geborene Künstler, den Erlebnisse mit der Landschaft, mit Wolkenhimmel und Kornfeld früh geprägt haben. Später, an den Kunstakademien von Dresden und Düsseldorf, suchte und fand er seine „Ahnen“ in Turner, C. D. Friedrich, Rembrandt, Tizian, Velazquez, Goya, Rothko, Newman.

„Bei Tizian ergab sich eine Zusammengehörigkeit aller Farben, von denen jede einzelne nuancenreich belebt wird“, erwähnt Graubner. Durch die geschichteten Lasurfarben dringe „die Anschauung von Welt ... bis in den Kern des Wesens der Malerei“. Dabei zeige die Farbe, „was sie – nuancenreich und formbewegt dargestellt – über die Körperlichkeitsbezeichnung hinaus als Energie und geistige Macht“ vermöge. Farbe sei ihm Thema genug, sagt Graubner.

Nach seiner ersten Düsseldorfer Einzelausstellung in der Galerie Schmela 1960, den Ausstellungen im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen (1969) und in der Kunsthalle (1977) bringt jetzt die Schau im Kunstpalast „Arbeiten auf Papier“ von Graubner. Mit 73 Exponaten umfaßt sie den Zeitraum von 1952 bis 1982, doch mit Schwerpunkt der Arbeiten aus dem letzten Jahrzehnt, darunter die seit 1972 entstandenen großformatigen „Fließblätter“. Einige davon sind in Verbindung mit seinen Ausstellungen in Venedig und New Delhi entstanden und erinnern in ihrer Arbatmosphäre an diese Orte: Tintoretto oder die Farbklänge Indiens, gemischt aus leuchtendem Rot, Orange, fahlem Violett und sandig-soinnigem fruchtigem Gelb, Ocker.

In den Fließblättern wird besonders deutlich, daß es in Graubners Werk keine Rangunterschiede zwischen Bildern und „Arbeiten auf Papier“ gibt, in denen der Künstler neben Bleistift, Aquarell, Gouache auch häufig Öl- und in jüngster Zeit auch Acrylfarbe verwendet. Nicht selten sind sie auf Keilrahmen aufgezogen. Auch im Format erreichen sie große Diemensionen. In dem von Coco Ronkholz in Verbindung mit Graubner gestalteten Katalog werden diese Arbeiten auf Papier überdies lückenlos vorgestellt; von den frühen Baum- und Aktzeichnungen, den aquarellierten „Zeichen“, den „Schwammgouachen“ über die Farbkörper, Kissenbilder, „Trampoline“ bis zu den Frottagen und Fließblättern. Auch die differenzierte Materialauswahl, seine Tonigkeit und Struktur scheinen immer von der Farbe inspiriert zu sein. Welche ein Weg von den frühen kleinen, im lichten Farbraum schwebenden Aquarell-Zeichen, einem flaumig-duftigen, rosigen „Nabel“-Bild bis zu den späten Diptychen und Triptychen mit ihren von Bild zu Bild überspringenden Farbmodulationen, -bewegungen, -metamorphosen, -kontrasten. „Fließblätter“ sind dramatische, von tiefen Furchen verletzte Seelenlandschaften, Furchen des Materials, die ins Fleisch gehen bis aufs Mark, schwer von ausblutenden, von Schwarz verletzten, leuchtenden Farbflüssen. Es ist Graubners heftige, sich in Farbenergie verdichtende Reaktion auf die Gegenwart. „ich mußte ein Leben lang auskommen mit diesen Kräften“, sagte Graubner.

In: Rheinische Post. Feuilleton / Wissenschaft und Bildung, 22. März 1983.

Bedrückende Phantastik

Kunst von Geisteskranken in der Galerie Heike Curtze

In seinem 1938 erschienenen Buch „Kunst und Rasse“ verglich der Maler, Architekt, Schriftsteller und Direktor der Weimarer Kunsthochschule Paul Schultze-Naumburg Bilder von Nolde, Modigliani, Picasso, Kirchner mit Photographien kranker, mißgestalteter Menschen und argumentierte, daß diese Künstler ihre Vorbilder „in Idiotengestalten, psychiatrischen Kliniken, Krüppelheimen“ gefunden hätten. Sie gehörten zu denen, deren als „entartete Kunst“ verfemte Werke im gleichen Jahr zu Tausenden aus den deutschen Museen entfernt oder zerstört wurden.

Der ehemalige Anstreicher Adolf Hitler hatte den Künstlern „grauenhafte Sehstörungen“ bescheinigt oder ihnen bewußten Betrug unterstellt, der mit Bestrafung oder Sterilisation geahndet werden müsse. Dies bekräftigte 1939 der Ordinarius an der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik Carl Schneider, indem er feststellte, daß die „entartete Kunst“ der Irrenkunst außerordentlich nahe stehe.

Diese Einstellung markiert den total gegensätzlichen Standpunkt zu dem in die Zukunft weisenden, 1922 erschienenen Buch von Hans Prinzhorn „Bildnerei der Geisteskranken“, in dem der Verfasser – damals Assistent am gleichen Heidelberger Institut – seine dort angelegte Sammlung künstlerischer Arbeiten von Geisteskranken therapeutisch auswertete. Fast gleichzeitig hatte der Schweizer Arzt Walter Morgenthaler das künstlerische und schriftstellerische Werk des schizophrenen Bauernknechtes Adolf Wölfli in der Anstalt Waldau bei Bern bekannt gemacht („Ein Geisteskranker als Künstler“, 1921).

An diese positive, therapeutisch hilfreiche Beurteilung der Kunst von Geisteskranken, deren künstlerisch-schöpferische Qualitäten vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg immer differenzierter erforscht, gefördert und herausgestellt wurden, knüpft auch Leo Navratil an. In der von ihm geleiteten psychiatrischen Abteilung des Niederösterreichischen Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg hat er geduldig die Kranken zu der für sie so lebenswichtigen schöpferischen Arbeit ermuntert, die ihnen hilft, ihr Ich freizulegen. Zahlreiche Publikationen reflektieren sein Wirken, darunter „Schizophrenie und Kunst“ (schon 1965). Seit 1970 veranstaltet er vielbeachtete Ausstellungen künstlerischer Arbeiten der Patienten aus der Klinik in Galerien, Museen, auch im Krankenhaus selbst, übrigens mit großem Verkaufserfolg.

Zeichnungen von zwölf dieser psychiatrischen Patienten aus Gugging sind jetzt in einer Ausstellung „Zustandsgebundene Kunst“ in der Düsseldorfer Galerie Heike Curtze zu sehen. „Zustandsgebunden“ sind sie eben, weil man sie trotz ihrer immer wieder frappierenden künstlerischen Expressivität und erstaunlichen individuellen Eigenart nicht mit Arbeiten gesunder, unter „normalen“ Verhältnissen lebender Künstler vergleichen kann.

Am bekanntesten ist inzwischen Johann Hauser (geb. 1926 im slowakischen Bratislava), der seit 1949 in der Anstalt lebt und um 1960 zu zeichnen begann. Die meisten seiner in Erinnerung an Wirklichkeitseindrücke sehr sicher und eigenwillig vereinfachend umgeformten Zeichnungen entstehen in den manischen Phasen seiner Krankheit. Dann sind sie bunt, raumausgreifend, impulsiv, wie etwa ein Porträtkopf, der sich spiralig-wirbelig über den Rand ausdehnt. In den depressiven Phasen zeichnet er dann so einprägsame, sparsame, ernste, streng komponierte Blätter wie einen langen schwarzen abstrahierten Fisch, der vertikal über der Signatur mit pilzartiger Umrandung schwebt. Hauser erreicht nicht selten eine geradezu monumentale Surrealität, so auch in einem traurigen gelben Engel mit blauem Stern auf dem Kopf.

So verschlossen, introvertiert und kontaktlos zur Außenwelt wie der seit 1955 hospitalisierte Bauernsohn Frank Kernbeis sind auch seine sensiblen Blei- und Buntstiftzeichnungen: ein geflügeltes Tier ohne Augen und Gesicht oder eine kaktusartige Pflanze und sehr lyrisch-zarte, rhythmisch empfundene, abstrahierte Blumen. Eigenartige fragile Gitterarchitekturen, eine abstrahierte Katze, einen Menschenkopf in Rot und Violett, der zu einem als rote Gitterkonstruktion gebildeten Körper gehört, zeichnete Fritz Koller (geb. 1929), Sohn eines Landwirts, der seit seinem 22. Lebensjahr in der Klinik lebt: Menschliches, verstrickt in zwanghafte Geometrie.

Bei Oswald Tschirtner, der das Abitur mit Auszeichnung bestand und gern Priester geworden wäre, brach die Krankheit offenbar während des Kriegsdienstes und der Gefangenschaft aus. Er fühlt sich als Todgeweihter, der um Christi willen Leid tragen muß. Langgezogen, zart, fast zärtlich sind seine Tuschfederzeichnungen von Menschen, die in streifige Räume eingespannt sind. Ohne Körper stehen zwei schmale, lange Kamelhälse oder eine menschliche Kopfgestalt auf ihren Beinen. Eine Frauenhalbfigur hält ein Lämmchen oder eine Katze liebevoll im Arm, eine „Flucht nach Äypten“ entstand in abstrahierender, sensibler Deformierung nach einer Vorlage.

Die neueste Entdeckung ist J. F. (Johann Fischer), dessen höchst merkwürdige silhouettenhafte Tiere – Hühner und Hahn, ein Elefant ohne Kopf – sich dem Gedächtnis einprägen. Ganz präzise, fein gezeichnete Hausfassaden im Blumengarten mit einem jungen Liebespaar auf der Bank davor und einem Vogelschwarm zeichnete Otto Prinz, der in den letzten Jahren nur von drei Päckchen Zigaretten und einer Flasche Cola am Tag lebte und kürzlich starb. Auch er war als Soldat während des Ersten Weltkriegs erkrankt.

Johann Korbec verbindet seine illustrativen Aquarellzeichnungen dekorativ mit integrierten handgeschriebenen Texten. Anton Dobay reflektiert sein Ich in einer dunklen, schwarz-grün-violett gestrichelten abstrakten Raumvibration. Auch Johann Garber füllt die ganze Bildfläche mit seinen gezeichneten Erzählungen: phantastischen Tieren, Drachen, Hasenköpfen, fliegenden Erzengeln, Zwiebelturm-Kirchen, Frauen am Fenster.

In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 7. April 1983.